Lebenslauf von Anna Lutz -Naeff 1803 - 1887

Nachruf erfasst von den Kindern und betitelt: UNSERE MUTTER !

( Veröffentlicht in Familie Lutz, Rheineck I, Seite 82 ff. und in Otto Gsell)

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Frau Anna Lutz, gebe Naeff wurde geboren am 18. April 1803 als viertältestes Kind des Herrn Joh. Math. Naeff in Altstätten u. der Frau Ursula, gebe Dalp von Chur, ein zartes schwaches Kindlein, das aber unter der treuen Pflege der Eltern bald zu einem gesunden, kräftigen Mädchen heranwuchs, fröhlich u. glücklich im Kreise seiner Geschwister lebte bis Ostern 1814, wo die geliebte Mutter im zwölften Wochenbette starb, ihrem tiefgebeugten Mann die Sorge für 10 verwaiste Kinder hinterlassend. Eine Schwester, Frau Bavier, nahm kurz nach der Beerdigung die kleine Anna zu sich nach Chur u. erzog sie dort mit ihrem einzigen Sohn, nach den schlichten aber gesunden Grundsätzen der damaligen Zeit. Überall musste das junge Mädchen mit Hand anlegen, am Abend bot der Garten der Stadt Erholung: dort durfte sie säen u. pflanzen nach Herzenslust u. musste alle Samstage eine Menge kleiner Sträusschen binden, die eine arme Frau für den Kirchgang verkaufte, denn ohne einige Blumen gieng damals keine Frau u. kein Mädchen zur Kirche. Dieser Beschäftigung hat die liebe Verstorbene wohl die Freude an den Blumen zu verdanken, die sie bis ins hohe Alter begleitet hat.

Auch die Liebe zu kleinen Kindern, die ihr bis ans Lebensende geblieben, verdankt sie wohl den Erholungsstunden in Chur, die sie oft im Hause einer zweiten, kinderreichen Tante zubrachte, wo sie die Kinder hegte u. pflegte, u. als höchste Gunst sich ausbat, eines der Kleinsten mit nach Hause nehmen u. neben ihrem Bett schlafen lassen zu dürfen. Ein fröhlicher Freundinnenkreis brachte neben solchen, heut zu Tage wohl seltenen Erholungen eines jungen Mädchens, auf dem Schulweg u. an Sonntagen manche Freude, u. die Freundschaften im Bündtnerland blieben ihr für's Leben u. erstreckten sich noch auf ihre Kinder.

Der Schulunterricht beschränkte sich auf die einfachsten Wissenschaften, für Musik u. Zeichnen sorgten Privatstunden. Als 15 jähriges Mädchen kam die Verstorbene zu ihrer weitern Ausbildung nach Lausanne, u. verlebte dort in der grossen Familie eines Freundes ihres Vaters, wo Schulstudium mit den Freuden u. der Arbeit einer grossen Landwirthschaft abwechselten, ein schönes Jahr. Nachdem sie bei dem dortigen, deutschen Pfarrer konfirmirt worden war, kehrte sie heim u. musste dem grossen Haushalt ihres geliebten Vaters vorstehen: eine grosse, schwere Aufgabe für die erst Sechszehnjährige: Trotz kräftigen Einschreitens des tüchtigen Vaters in der Erziehung, trotz der ausgiebigen Unterstützung der treuen, bewährten Graubündtner Magd, dem Vreneli, die 35 Jahre lang im Hause Naeff gedient hat u. jetzt noch im besten Andenken bei fillen steht, trotz dem freundlichen Arte der alten Grossmutter, vermisste das junge Mädchen doch schmerzlich den Rat u. das Herz einer treubesorgten Mutter.

Drei Jahre später fand sie beides in ihrer vorzüglichen Schwiegermutter. Am 14 Oktober 1822 folgte die Verstorbene dem Manne ihrer Wahl, dem Herrn Jakob Conrad Lutz nach Rheineck in das alte, steinerne Haus, in dem sie über 64 Jahre ihr nach fiussen so stilles, nach Innen so bewegtes Leben zubrachte, u. des Lebens Kampf u. Arbeit, aber auch dessen reichen Segen kennen gelernt hat. 11 Kindern gab sie das Leben, 4 davon starben schon in zartem Alter.

Allzeitig rüstig u. munter besorgte sie Haus u. Hof u. stand mit vielem Geschicke allem vor: ihre grösste Freude waren ihre Kinder, ihre schönsten Erholungen die Besuche im Vaterhaus, dem allzeit offenen, dem Sammelplatz ihrer geliebten Geschwister u. deren Familien. Das waren für sie schöne Zeiten u. die gegenseitigen Familienbesuche u. Zusammenkünfte ihr grösstes Vergnügen. Ausser diesem war ihr Haus ihre Welt, u. ihr freundliches Wirken u. Walten ist ihren Kindern u. Verwandten unvergesalich.

Die Schule des Lebens wurde je länger je ernster; still ergeben trug sie ein schweres Gehörleiden, still u. stark den Verlust ihres ältesten, innigstgeliebten Sohnes, der 20 Jahre alt in Westindien starb; den Tod ihres zweiten Sohnes, der zu früh Frau u. ein zartes Söhnlein verlassen musste: treu u. warmen Herzens trug sie das Leid ihrer Tochter, die nach 10 jähriger, allerglücklichster Ehe ihren geliebten Gatten verlor u. die Sorge der Erziehung von 4 Kindern allein zu tragen hatte. Der fromme, religiöse Sinn der Verstorbenen, der ihr Kraft zum Tragen gab, war schlicht u. ohne viel Worte, ihr Leben war ein herrliches Beispiel der Liebe, die alles trägt u. alles duldet, die nicht suchet das Ihre, die sich nicht lässt erbittern. "Geht nie zu Bett, ohne dass Ihr in eurem Herzen Allen u. Alles verziehen: was Euch druückt das sagt dem lieben Gott im stillen Kämmerlein: " Freut Euch an den kleinen Blumen, die an Eurem Lebensweg stehen u. achtet ihrer" , so lehrte sie ihre Kinder. Als nach langjährigem, schwerem Gemöthsleiden ihr lieber Mann, der für das Gedeihen seiner Gemeinde u. seiner Familie in gesunden Tagen äusserst tatkräftig gewirkt hat, 1870 gestorben u. die Familie u. ihr Pflichtenkreis kleiner geworden, schien ein freundlicher Lebensabend zu folgen. Ihre stille Sorge um ihr Augenlicht, ihr Gehörleiden trug sie tapfer, da sie nun weder lesen, noch viel schreiben, noch feinere Arbeiten machen durfte, erwarb sie ein kleines Gütchen, planierte, grub u. pflanzte. "Mit jedem Pflänzchen, das ich setze, grabe ich meine stillen Angsten u. Sorgen in die Erde: bei den Bäumen frage ich, wer sich wohl der edlen Früchte derselben einst freuen wird", so verflocht sie ihr Gedankenleben mit ihren Arbeiten. Die gefürchtete Blindheit kam nicht über die Entschlafene, wohl aber 1882 der schwerste Schlag ihres Lebens, der Tod ihrer jüngsten Tochter Julie, der treuen Gefährtin ihres Wittwenlebens, der Stütze ihres Alters, dem Dach ihres Hauses, wie sie sie selber nannte. Aber auch dies schwere Leid ertrug das starke Herz u. mit dem Einzug der verwittweten Tochter Bertha Saxer mit ihrer Familie u. dem so sehr geliebten, ältesten Urenkel kam wieder neues Leben in das alte Haus; sogar eine Hochzeit durfte das Haus in seinen Mauern feiern, wie freute sich die alte Grossmutter u. Urgrossmutter. Aber nicht lange: ein Schlaganfall lähmte ihre linke Seite u. 18 Monate dauerte ihr gottlob sonst schmerzloses Krankenlager, aber doch welch schwere Prüfung für die sonst so rüstige, arbeitsame Frau, deren inniger Wunsch es gewesen, einst schnell u. nach ganz kurzer Krankheit sterben zu dürfen. Die treue Pflege ihrer Tochter, unterstützt von einer verständig sorgenden Dienerin, die Liebe ihrer Kinder u. Enkel, die Besuche ihres geliebten jüngsten Sohnes, das Wiedersehen einer im fernen Lande wohnenden Tochter, die Anhänglichkeit all ihrer Verwandten u. Bekannten, denen an dieser Stelle für alle ihre Aufmerksamkeiten u. ihre Liebe u. Freundlichkeit, die sie der theuren Verwandten gewidmet, im Namen der hinterbliebener Kinder herzlichster Dank gesagt sei, erleichterten ihr die lange Zeit ihres Gebundenseins u. reges Interesse an anderer Freud u. Leid blieb ihr bis zum letzten Tag: sie konnte sich so herzlich mit u. für Andere freuen, wie deutlich u. wie oft sagten das ihre lieben, guten Augen. Wie freute sie sich an dem Gedeihen ihrer Kinder, Enkel u. Urenkel, von welch letzeren ihr sogar aus Brasilien u. Russland an das Krankenlager gebracht wurden. Wie freudig sah sie dem Erscheinen eines muntern Urenkeleins entgegen, wie schwer u. tief traf sie am letzten Februartage die Kunde, dass die Geburt desselben der jungen Mutter das Leben gekostet, wie warm theiltes ie das Herzeleid mit ihrer 'Tochter, die dieser Schlag so unendlich schwer getroffen u. wie hat sie gesucht zu trösten: Voll Sehnsucht sah die 84 jährige aber ihrem Heimgang entgegen. Voll Liebe ruhte ihr Auge auf dem Bilde der vorangegangenen geliebten Enkelin, "bald, bald" flüsterte sie, das Bild derselben in den Händen, noch in der letzten Stunde u. still u. sanft durfte die bis zu ihrem Ende für die Ihrigen stets so treubesorgte, geliebte Mutter hinüberschlummern.


Liebe war ihr Leben, die ewige Liebe ist ihr Lohn.