Wilhelmine Gsell-Lutz 1827-1909

Wilhelmine Gsell-Lutz ist für unsere - für die Gsell’sche Familiengeschichte - eine zentrale Persöhnlichkeit, einerseits wurden mit ihrer Heirat die Verbindungen zu den Familien Lutz und Naeff, sowie aus der Stadt ins untere St.Gallische Rheintal geknüpft und anderseits haben ihre 8 Kinder die Familiengeschichte in einem breiten Fächer weitergetragen.

Wilhelmine war die aktive Erzieherin ihrer Kinder. Der Vater stand dabei eher im Hintergrund. Das zeigt uns die rege Korrespondenz zwischen Mutter, Söhnen und Töchte. In den Briefen finden wir viele Details zum Familien- und Gesellschaftsleben einer bürgerlichen Familie in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der grosse Haushalt im Familiensitz, dem "Röteli", etwas ausserhalb der Stadt, wurde familiär geführt. Es waren keine Erzieher oder Erzieherinnen im Haus. Von Hausangestellten erfährt man nur wenig. Es gab keine eigene Kutsche und Pferde. Der grosse Garten wurde „wild“ belassen. Das Haus bot nicht mehr als die üblichen Angenehmlichkeiten und nimmt sich in den Bildern eher bescheiden aus. Ein Haus für viele Kinder, keine Villa !

Der Lebenslauf aus dem Nekrolog, 1909

Frühe Jugend

Unsere liebe Mutter, Frau Wilhelmine Gsell-Lutz wurde am 30. Dezember 1827 in Rheineck geboren als das drittälteste Kind des Jakob Konrad Lutz und der Frau Anna, geborene Näff. Bis zu ihrem zehnten Jahre war die Kleine voll ungebundener Jugendlust; da erkrankte sie an den Blattern. und aus dem fröhlichen, wilden Kinde wurde ein für ihr Alter sehr ernstes Mädchen.

Tüchtige Tochter

In dem kinderreichen Haushalt gab es viel Arbeit ringsum, wo die älteste Tochter helfend eingreifen musste. In ihrem 16.Jahre wurde sie, als Abschluss der schönen Schulzeit bei einem vielgeliebten Lehrer, mit ihrer Jugendfreundin von deren Vater konfirmiert und kam dann zur weiteren Ausbildung nach Stuttgart. Hier verlebte sie ein ungetrübtes Jahr volt geistiger Anregung im Kreise einer hochgebildeten Familie und sah auch ihren Herzenswunsch erfüllt, endlich guten Musikunterricht zu geniessen. Gerne wäre sie noch länger in dem ihr so heimeligen Schwabenland geblieben, aber der Vater rief sie nach Hause zur Stütze der Mutter in Haushalt und Kinderstube. Dies Amt erfüllte sie voll Hingebung wie alles, was sie ihr ganzes Leben hindurch unternahm, und war Alt und Jung eine Beraterin in kleinen und grossen Dingen.

Jugend Freuden

Ihre Jugend-Freuden bestanden in Gesang und Klavierspiel. in abendlicher Gartenarbeit im Verein mit ihren Geschwistern auf dem kleinen, väterlichen Gute, das, vom Stadthaus getrennt,etwas in der Höhe lag, in kleinen Reisen im Einspänner mit Vater und Schwesler und vor allem in den Besuchen im grossväterlichen Hause in Altstätten. wo die ganze grosse Familie Näff sich oft versammelte, wo Familiensinn und Zusammengehörigkeit aufs innigste gepflegt wurden.

Auf nach St.Gallen und Heirat

Fast ein ganzes jahr vertrat die nun zur blühenden Jungfrau Herangewachsene die Stelle der Hausfrau und Mutter bei einem verwitweten Onkel in St. Gallen und erfüllte diese Aufgabe voll innerer Freude. Nicht lange darauf lemle sie bei lieben Verwandlen ihren zukünftigen Gatten, Herrn Jakob Laurenz Gsell von SI. Gallen, der sich nach langem Aufenthalt in Brasilien in der alten Heimat niedergelassen hatte, kennen und lieben und schloss am 2. März 1852 den Ehebund mit ihm. Sie trat damit in eine neue Lebenssphäre ein, in eine Familie, die sie voll Liebe aufnahm und mit der sie die innigste Sympathie aufs engste verband.

Das junge Heim, das Röteli und 8 Kinder

Das junge Heim wurde zuerst im Sternenacker aufgeschlagen, wo dem glücklichen Paare drei Kinder geboren wurden. Im Februar 1857 bezog die Familie das neuerbaute Haus zum Roeteli, wo das reiche, bewegte Leben der lieben Verstorbenen sich fortan abspielle. Im Laufe der Jahre vergrösserte sich der Familienkreis, und 8 Kinder, 6 Knaben und 2 Mädchen, brachten den Eltern viel Arbeit und manche Freude. Zu diesen gesellte sich ein liebes, verwaistes, 6 jähriges Patenbüblein, das in Herz und Haus für alle Zeit eine Heimat fand.

Reiches Leben

Für Gemüt, Kopf und Hand der Familienmulter kamen nun heisse Tage und oft sagte sie im Herbst ihres Lebens, dass der Lebens·Sommer ihr viele bange Stunden bereitet habe. Ihr warmes Herz, ihr energischer Wille und ihre Tatkraft halfen ihr die vielseitige Arbeit bezwingen, so dass alle Kinder voll inniger Dankbarkeit auf ihre sonnige Jugend zurückblicken. Pflichttreue und Selbstzucht wurden von den Eltern im höchsten Masse ausgeübtj; Liebe und Treue im Kleinen und Grossen und eine tiefinnere Harmonie waren die Sterne, die über dem Hause leuchteten.

Auch nach aussen hin erstreckte sich die nimmer ruhende Liebe und Fürsorge der lieben Heimgegangenen. Sie betätigte sich bei der Gründung des Wöchnerinnen· Vereins und des Kindergartens Oberstrasse, und viele müden hilfesuchenden Herzen fanden bei ihr Rat, Trost und Hilfe. Was sie auch unternahm, immer war ihr ganzes Herz mit dabei; dies ist wohl auch der Grund, dass sie nicht nur ihren eigenen Kindern eine „Mutter“ war.

Das Alter, die Enkel und Urenkel

Im jahre 1883 durfte sie die ersten Grossmulterfreuden erleben, und von nun an reiht sich in dem grossen Kreise ihrer Kinder ein frohes Ereignis an das andere, bis schliesslieh im Gang der Zeiten alte Söhne und Töchter ihr eigenes Heim gründeten und eine stattliche Enkelschar daraus entspross. Mit grösster Liebe umschloss ihr Herz jeweils die neuen, die alten und die jungen Familienglieder.

Zu der Mutter herzlichster Freude siedelten sich nach und nach fast alle Kinder in der Vaterstadt an, so dass das Grosselternhaus fortsetzen konnte, was das Elternhaus begonnen hatte: ein Zusammenleben von Gross und Klein in Liebe und Harmonie.

In den letzten Jahren brauchte es viel selbstlose Liebe dazu, die grosse, lebhafte Schar so oft um sich zu sehen - zwei Urenkelein waren auch noch hinzu gekommen - aber anderseits freule sich die liebe Grossmama innigst der stele Mittelpunkt Aller zu sein.

Da sie geistig vollkommen frisch blieb bis fast zum Ende der letzten, kurzen Krankkeit, so war der Umgang mit ihr ein reicher Genuss. Sie interessierte sich ebenso lebhaft für das Gemeinwohl, fü Religion, Politik, Literatur, Musik und Kunst, wie auch für die kleinen Erlebnisse der Alltagswelt in und ausser der Familie. Ihre reiche Phantasie half ihr das Erzählte lebendig in sich zu gestalten, so dass sie trotz ihrem zurückgezogenen Leben jedes Geschehnis miterleb!e. Wie herzlich freute sie sich auch stets über die Besuche lieber Verwandten und Freunde von nah und fern und ganz besonders über das tägliche Zusammenkommen der Eigensten im Hause.

Auch schwere Zeiten

Wie jedes Menschenleben, so hatte auch das ihre seine schweren Tage. Die Gemütskrankheit ihres geliebten Vaters, der Hinschied lieber Geschwister, der Tod der Eltern und Schwiegereltern warfen ernsle, dunkle Schatten. Ein Augenleiden, das sich in den 60er Jahren einstellte, brachte viele Entbehrungen mit sich. Vor allem aber ging ihr der Tod ihres inniggeliebten Mannes im Februar 1896, mit dem sie die treueste, hingebendste liebe und ein inniges Verstehen verbunden hatte, sowie der Hinschied einer jungen Schwiegertochter und ihres ältesten Sohnes lief zu Herzen. Noch in den letzten Monaten ihres Daseins musste sie mit ihrem dritten Sohne um den Verlust seiner lieben Frau trauern.

Auch war ihre Gemütsanlage und lebensauffassungeine ernste, so dass alle Lebensfragen sie bis ins Innerste packten und erschütterten. Immer aber war sie dessen gewiss, dass keinem Menschen mehr aufgebürdet wird, als er tragen kann und dass jedes Erlebnis zu seiner Weiterentwicklung dient. Mit ihrem Gott machte sie alle Kämpfe in der Slille durch und war seiner Hilfe gewiss.

So klar und harmonisch ihr ganzes Leben war, durchsonnt von ihrer tiefen Liebe, so war auch ihr Sterben. Sie war von ganzem Herzen bereit heimzugehen, voll Dankbarkeit gegen Goll und alle Menschen, die ihr je nahe getreten waren; sie sorgte mit den letzten Gedanken für ihre Umgebung; ihre letzten Worte waren Worte der Liebe.

Nach 7 wöchentlichem Krankenlager entschlief unsere liebe, teure Muller am letzten Advents- Sonntag 1909 morgens 9 Uhr.

Die Liebe höret nimmer auf.

Die Briefe von Wilhelmine Gsell

Es sind die vielen Briefe, die Wilhelmine Gsell an ihre Kinder geschrieben hat, welche uns das Bild dieser Frau vermitteln.

  • Die Briefe zwischen Mutter und Tochter Clara aus den Jahren 1880 - 1883

Briefwechsel Wilhelmine, Mutter und Clara Tochter 1880 - 1883

Die Erziehung einer Tochter oder Das Altern einer Mutter

Unter diesem Titel wurden die transkribierten Briefe zwischen Mutter und Tochter aus den Jahren 1889 - 1883 von Renate Altwegg und Daniela Schlettwein publiziert, welche zu Wilhelmines Korrespondenz festhält:

Weit mehr noch zum Nachdenken regen die Briefe der Mutter an. Wilhelmine Gsell-Lutz ist 53 Jahre alt als Clara ins Pensionat geht, der Vater 66 und sein Herzleiden macht ihm schon deutlich zu schaffen. Von den Geschwistern sind in diesen Jahren Julius in Rio, Hermann in Florenz, Walter in Zürich, Jakob in Cilli, Marie in Heidelberg und Rudi David der Pflegesohn in Strassburg. Einzig Robert ist offensichtlich wieder und Otto noch zuhause. Zu grossen Tischrunden kommt es im Rötheli noch immer, aber sie werden seltener, schon um den Hausherm zu schonen. Dafür verbringt die Hausfrau Stunden über Stunden mit Briefen nicht nur an die auswärtigen Kinder, auch an Geschwister und Schwäger, manchmal wie unter einem Druck: "Das ist nun schon der fünfte Brief, den ich heute schreibe und ich bin nach gerade ganz dumm im Kopf". Man möchte meinen sie betrachte es als die ihr verbliebene Aufgabe mit unermüdlichem Fleiss die Familie zusammenzuhalten. Sie tauscht Briefe untereinander aus, berichtet jedem von jedem, versucht allen gerecht zu werden, überweist Geldbeträge, schaut sich Wohnungen an, sorgt für Reisebegleitungen, führt nicht nur den Haushalt sondern auch den Gutsbetrieb fast allein "Mütterlis spielen im Ernst in dieser Welt ist keine Kleinigkeit"  - alle ihre 8 Kinder werden sich in den kommenden Jahren in oder in der unmittelbaren Umgebung von St. Gallen niederlassen.
In hausfraulicher Morgeneile fliegt ihre Feder übers Papier, erzählt fröhlich wie es gerade so kommt, was im Haushalt noch zu erledigen ist, wer unpässlich oder als Besucher erwartet wird, wer was als Geschenk erhalten hat oder bekommen soll, schwärmt vom Konzert der letzten Woche oder vom Buch das in den nächsten Tagen gelesen werden soll. Die Briefe sind lang - "noch 4 Seitchen geschrieben, troz Kopfweh"  und endlos die Nachschriften oben, unten und an den Seiten der Briefe. Trotz diesen häufigen Kopfschmerzen ("wie ein Deckel hängt's über dem Kopf") geht die Mutter ausführlich aufjede Nachricht der Tochter ein, lobt, bewundert, korrigiert Schreibfehler und spart nicht mit Ermahnungen fraulich und demütig zu sein - wie erfrischend, dass Clara darauf antworten darf "so ein Tugendspiegelchen würde ja gar nicht ins Rötheli passen". Mag der einzelne Brief oft kaum eine nennenswerte Information vermitteln, der Briefwechsel als ganzes besticht durch die Herzlichkeit der Mutter-Tochter Beziehung, die innere Sicherheit der beiden Korrespondentinnen, die auf dem tiefen Vertrauen in der Familie gründet - ganz abgesehen von den kostbaren Einzelheiten aus dem Alltagsleben im Rötheli, aber auch aus den Haushaltungen in Meudon und Cilli, die zwischen den Zeilen sichtbar werden.